Das Finanzgericht Münster hat mit Urteil vom 02.09.2025 (1 K 360/25 E) entschieden, dass der Verlust von 50.000 € durch einen sogenannten Schockanruf keine außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG sei. Die Begründung wirkt auf den ersten Blick geschlossen – auf den zweiten beruhen jedoch wesentliche Teile des Urteils auf falschen Annahmen.
1. Irrtum des Gerichts Nr. 1: Die Annahme des „zufälligen Opfers“
Das FG meint, der Schockanruf sei Ausdruck eines „allgemeinen Lebensrisikos“, weil jeder Inhaber eines Telefonanschlusses betroffen sein könne. Darauf baut das Gericht seine zentrale These: Wenn jeder betroffen sein kann, fehlt es an der Außergewöhnlichkeit.
Das Problem:
Die Täter wählen ihre Opfer nicht zufällig aus. Sie suchen gezielt nach Personen mit älteren, generationstypischen Vornamen, weil diese statistisch eine höhere Trefferwahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Altersprofil aufweisen. Ein „Kevin“, „Luca“ oder „Finn“ wird praktisch nie angerufen. Eine „Hildegard“ oder „Irmgard“ dagegen sehr wohl.
Die angebliche Zufälligkeit existiert also nicht.
Wenn aber bestimmte klar abgrenzbare Bevölkerungsgruppen bewusst adressiert werden, handelt es sich gerade nicht um ein allgemeines, jeden gleichermaßen treffendes Lebensrisiko.
Damit wankt bereits die erste tragende Säule der Entscheidung.
2. Irrtum des Gerichts Nr. 2: Die Annahme voll handlungsfähiger Opfer
Der zweite fundamentale Denkfehler liegt in der Annahme des FG, die Angerufenen könnten sich objektiv dem Gespräch entziehen – sie müssten nur auflegen, jemanden anrufen, nachfragen, innehalten. Das Gericht setzt eine vollständig handlungsfähige Person voraus, die lediglich von einer Lüge überrascht wird.
Die Realität funktioniert anders.
Schockanrufe sind psychologisch präzise konstruierte Angriffe.
Sie verfolgen ein einziges Ziel:
Den Betroffenen in einen Zustand zu versetzen, der funktional einer Betäubung entspricht – nicht körperlich, aber kognitiv.
Der Täter macht das Opfer zum Werkzeug gegen sich selbst.
Die Denk- und Entscheidungsfähigkeit wird so massiv überlagert, dass ein tatsächliches „Entziehen“ gerade nicht mehr möglich ist. Das Opfer ist nicht mehr frei; es reagiert reflexhaft auf die steuernden Impulse des Täters.
Im Ergebnis ähnelt der Vorgang einem Betäubungsschuss:
Nicht weil physische Gewalt eingesetzt wird, sondern weil die psychische Wirkweise dieselbe Funktion erfüllt – die kurzzeitige Ausschaltung der autonomen Abwehrfähigkeit.
Wenn man diesen Mechanismus ernst nimmt, zerfällt auch die zweite Säule des Urteils:
Die Zumutbarkeit von Alternativen.
Wer betäubt ist, kann nicht auflegen. Und wer nicht auflegen kann, kann nicht prüfen, nicht nachfragen, nicht frei entscheiden.
3. Konsequenz: Die Begründung des FG trägt nicht
Wenn das FG Münster von zwei falschen Grundannahmen ausgeht,
Die Opfer eines Schockanrufs befinden sich eben nicht in einer Situation des allgemeinen Lebensrisikos und auch nicht in einer Lage frei wählbarer Alternativen.
Sie befinden sich in einer gezielt herbeigeführten, strukturell asymmetrischen Zwangssituation – einer Situation, die der klassischen Erpressung deutlich ähnlicher ist, als das FG annimmt.
4. Fazit: Fehlende Tatsachengrundlage und einseitiges Allgemeinheitsverständnis
Nimmt man die spezifische Täterstrategie und die psychologische Wirkweise ernst, ergibt sich ein anderes Bild:
Der Schadenseintritt ist weder allgemein noch vermeidbar, sondern basiert auf einer gezielten Auswahl und einer gezielten Ausschaltung der Abwehrfähigkeit.
Soweit das Urteil noch argumentiert, die Betroffene beziehe nur eine kleine Rente, aber stattdessen aus sechs Mietobjekten positive Einkünfte und sei deswegen auf den Verlust der 50.000 € nicht angewiesen, die nicht auf Kosten der Allgemeinheit kompensiert werden dürften (so Lutter, jurisPR-SteuerR 48/2025 Anm. 3), beteiligt sich die gleiche Allgemeinheit ohne Zögern an den Vermietungseinkünften derselben Personen. Das bedeutet letztlich, dass hier Gewinne sozialisiert, während außergewöhnliche, nicht selbstverursachte Verluste vollständig privatisiert werden sollen. Ein solches Verständnis dürfte dem grundlegenden Nettoprinzip des Einkommensteuerrechts, welches eine gleichmäßige Beteiligung der Allgemeinheit an beiden Seiten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit fordert, widersprechen.
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Bearbeiter: Rechtsanwalt (RA) Olaf Römmelt – Kanzlei Römmelt Hilden
1. Irrtum des Gerichts Nr. 1: Die Annahme des „zufälligen Opfers“
Das FG meint, der Schockanruf sei Ausdruck eines „allgemeinen Lebensrisikos“, weil jeder Inhaber eines Telefonanschlusses betroffen sein könne. Darauf baut das Gericht seine zentrale These: Wenn jeder betroffen sein kann, fehlt es an der Außergewöhnlichkeit.
Das Problem:
Die Täter wählen ihre Opfer nicht zufällig aus. Sie suchen gezielt nach Personen mit älteren, generationstypischen Vornamen, weil diese statistisch eine höhere Trefferwahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Altersprofil aufweisen. Ein „Kevin“, „Luca“ oder „Finn“ wird praktisch nie angerufen. Eine „Hildegard“ oder „Irmgard“ dagegen sehr wohl.
Die angebliche Zufälligkeit existiert also nicht.
Wenn aber bestimmte klar abgrenzbare Bevölkerungsgruppen bewusst adressiert werden, handelt es sich gerade nicht um ein allgemeines, jeden gleichermaßen treffendes Lebensrisiko.
Damit wankt bereits die erste tragende Säule der Entscheidung.
2. Irrtum des Gerichts Nr. 2: Die Annahme voll handlungsfähiger Opfer
Der zweite fundamentale Denkfehler liegt in der Annahme des FG, die Angerufenen könnten sich objektiv dem Gespräch entziehen – sie müssten nur auflegen, jemanden anrufen, nachfragen, innehalten. Das Gericht setzt eine vollständig handlungsfähige Person voraus, die lediglich von einer Lüge überrascht wird.
Die Realität funktioniert anders.
Schockanrufe sind psychologisch präzise konstruierte Angriffe.
Sie verfolgen ein einziges Ziel:
Den Betroffenen in einen Zustand zu versetzen, der funktional einer Betäubung entspricht – nicht körperlich, aber kognitiv.
Der Täter macht das Opfer zum Werkzeug gegen sich selbst.
Die Denk- und Entscheidungsfähigkeit wird so massiv überlagert, dass ein tatsächliches „Entziehen“ gerade nicht mehr möglich ist. Das Opfer ist nicht mehr frei; es reagiert reflexhaft auf die steuernden Impulse des Täters.
Im Ergebnis ähnelt der Vorgang einem Betäubungsschuss:
Nicht weil physische Gewalt eingesetzt wird, sondern weil die psychische Wirkweise dieselbe Funktion erfüllt – die kurzzeitige Ausschaltung der autonomen Abwehrfähigkeit.
Wenn man diesen Mechanismus ernst nimmt, zerfällt auch die zweite Säule des Urteils:
Die Zumutbarkeit von Alternativen.
Wer betäubt ist, kann nicht auflegen. Und wer nicht auflegen kann, kann nicht prüfen, nicht nachfragen, nicht frei entscheiden.
3. Konsequenz: Die Begründung des FG trägt nicht
Wenn das FG Münster von zwei falschen Grundannahmen ausgeht,
- dass alle gleichermaßen Opfer werden könnten (was empirisch falsch ist), und
- dass Opfer frei und informiert handeln könnten (was psychologisch falsch ist),
Die Opfer eines Schockanrufs befinden sich eben nicht in einer Situation des allgemeinen Lebensrisikos und auch nicht in einer Lage frei wählbarer Alternativen.
Sie befinden sich in einer gezielt herbeigeführten, strukturell asymmetrischen Zwangssituation – einer Situation, die der klassischen Erpressung deutlich ähnlicher ist, als das FG annimmt.
4. Fazit: Fehlende Tatsachengrundlage und einseitiges Allgemeinheitsverständnis
Nimmt man die spezifische Täterstrategie und die psychologische Wirkweise ernst, ergibt sich ein anderes Bild:
Der Schadenseintritt ist weder allgemein noch vermeidbar, sondern basiert auf einer gezielten Auswahl und einer gezielten Ausschaltung der Abwehrfähigkeit.
Soweit das Urteil noch argumentiert, die Betroffene beziehe nur eine kleine Rente, aber stattdessen aus sechs Mietobjekten positive Einkünfte und sei deswegen auf den Verlust der 50.000 € nicht angewiesen, die nicht auf Kosten der Allgemeinheit kompensiert werden dürften (so Lutter, jurisPR-SteuerR 48/2025 Anm. 3), beteiligt sich die gleiche Allgemeinheit ohne Zögern an den Vermietungseinkünften derselben Personen. Das bedeutet letztlich, dass hier Gewinne sozialisiert, während außergewöhnliche, nicht selbstverursachte Verluste vollständig privatisiert werden sollen. Ein solches Verständnis dürfte dem grundlegenden Nettoprinzip des Einkommensteuerrechts, welches eine gleichmäßige Beteiligung der Allgemeinheit an beiden Seiten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit fordert, widersprechen.
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Bearbeiter: Rechtsanwalt (RA) Olaf Römmelt – Kanzlei Römmelt Hilden